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Klinische Diagnosen und das Kriterium der Teilhabe

Mit Blick auf die psychologische Schulleistungsdiagnostik lässt sich feststellen, dass die verfügbaren diagnostischen Leitlinien und Forschungskriterien etwa des Multiaxialen Klassifikationsschemas nach ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die sogenannten AWMF-Leitlinien41, eine kriteriumsorientierte Leistungsmessung überhaupt nicht vorsehen. Diese ist etwa mit Blick auf die Diagnose sogenannter neurodevelopmental disorders, zu denen auch die umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten42 (F81.-) gezählt werden können, lediglich im DMS543 der American Psychiatric Association vorgesehen. Da das Deutsche Institut zur Medizinischen Dokumentation und Information (DIMDI44) und somit auch die Gesetzgebung (vgl. § 35a SGB VIII45) nicht näher spezifizieren – hier also weder eine bezugsgruppenorientierte noch eine kriterienorientierte Messung Erwähnung finden – erweist sich die klinisch-wissenschaftliche Expertise entsprechender Berufsgruppen als entscheidendes Kriterium. Regelmäßig finden in der klinischen Schulleistungsdiagnostik jedoch bezugsgruppenorientierte Verfahren Verwendung. Dies womöglich aus Unkenntnis, aufgrund präskriptiv verstandener Publikationen zum Thema oder einfach aufgrund der historisch bedingt weiten Verbreitung.

Als bedeutsam für eine Entscheidung zwischen kriterien- oder bezugsgruppenorientierter Messung (Diagnostik) erweist sich der eigentliche Nutzen der Diagnose. Aus welchem Grund und zu welchem Zweck wird eine Diagnose gestellt? Für die Klassifikation von Diagnosen nach ICD ist dies die Verwendung der entsprechenden Kodierungen „für das pauschalierende Entgeltsystem G-DRG. … Auch die Vergütung der ambulanten Behandlung nach EBM und der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich benötigen nach ICD-10-GM kodierte Behandlungsdiagnosen“ (DIMDI47, 2016). Als wesentlich für Betroffene und sozialrechtlich bedeutsame Entscheidungen erweist sich hingegen die Unterscheidung zwischen den Kriterien a) unmittelbares Leiden und b) sekundäre Beeinträchtigung oder Störungsfolge (etwa seelische Behinderung, vgl. § 35a SGB VIII). Mit beispielhaftem Bezug zu umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten sind zu nennen zu a) die Nichtbeherrschung einer Kulturtechnik mit einhergehender Einschränkung in der Informationsaufnahme und der Möglichkeit sich auszudrücken und mitzuteilen sowie zu b) eine Segregation als mittelbares Leiden im Sinne des § 35a SGB VIII, wenn die „Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist“ (Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz, 201648 [Hervorhebung v. Verf.]). Das Kriterium der Teilhabe – sowohl gesellschaftlich als auch sozial und ökonomisch (s. OECD49, 2014; vgl. Abschnitt 6.4) – bedarf in diesem Zusammenhang einer deutlichen Präzisierung. Es erweist sich als unnötig darauf hinzuweisen, was eine Spezifizierung solcher Teilhabekritierien für Menschen bedeutet.


Text: Dr. Lars Tischler

Bild: Pixabay